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Estland

Wir verlassen nach zwei Tagen Riga, um weiter Richtung Nordosten nach Estland zu fahren. Der ‚City Riga‘ Übernachtungsplatz für Caravan und Wohnwagen in Riga hat uns zwei Nächte aufgenommen. Dieser Platz ist sehr empfehlenswert.

‚City Riga‘ genau so wie später in Estlands Hauptstadt Tallinn der Platz ‚City Tallinn‘ sind eigentlich Parkplätze. Sie gehören zu Standplätzen, auf denen Mitarbeiter von Ausstellungsfirmen und Serviceunternehmen mit Wohnmobilen und Wohnwagen übernachten, um Messen in den angrenzenden Hallen aufzubauen und den Messebetrieb aufrecht zu erhalten. Die Messehallen liegen zentrumsnah und verfügen über gut ausgestattete sanitäre Einrichtungen. Jetzt im Sommer finden keine Messen statt und es wird hier ein stadtnaher Übernachtungsplatz für Touristen betrieben, bewacht und sicher. Wir sind erleichtert, denn wir können unser Auto mit aufgebautem Dachzelt einfach stehen lassen und den Campingtisch mit Stühlen auch. Es entfällt die längere Anfahrt in die City und die zeitraubende Suche nach einem sicheren Parkplatz. In ein paar Minuten mit dem Fahrrad sind wir in der Stadt, schließen unsere Räder zusammen und können ganz entspannt bummeln gehen.

Wir verlassen Riga auf der A2, um nach 80 Kilometern nach links abzubiegen und einen kurzen Abstecher in den Gauja Nationalpark zu machen. Über das kleine lettische Städtchen Cesis fahren wir an das Ufer des Gauja. Dieser Fluss ist mit 470 Kilometern der längste Lettlands, der im Lande entspringt und auf dem Weg zur Mündung das kleine Land nicht verlässt. Der alte, deutsche Name dieses Gebietes um den Gauja Nationalpark ist ‚Livländische Schweiz‘ und er sagt damit viel über diese Landschaft aus. Die Landschaft ist hügelig, bewaldet und man stößt besonders am Gauja Fluss, der sich mitten durch den Nationalpark schlängelt, auf steile Uferwände aus rotem Sandstein. Die Gegend lädt zum Wandern ein und eine Kajakfahrt auf dem Fluss ist auch ein Erlebnis.

Wir fahren weiter, denn unser Ziel ist die Nordostecke Estlands am Peipussee an der Grenze zu Russland. Wir übernachten in der zweitgrößten Stadt Estlands, der Universitätsstadt Tartu. Junge Studenten und viele Kneipen und Cafes prägen das Stadtbild. Der weite Rathausplatz mit Restaurants an beiden Seiten lädt zum gemütlichen Verweilen ein und die klassizistischen Bauten, die mit dem Rathaus den Platz einfassen, runden das ganze Bild angenehm ab.

Hinter dem Rathaus von Tartu erstreckt sich der Domberg, auf estnisch Toomemägi. Er ist eine auf einem Hügel angelegte Parkanlage mit Universitätsinstituten, der Sternwarte und dem Historischen Museum der Universität Tartu. Dieses Museum mündet fast übergangslos in die Ruine der alten Domkirche. Mit dem Bau dieses gotischen Doms aus massivem Backstein wurde im 13. Jahrhundert begonnen doch wirklich fertiggestellt wurde er nie. Zuerst wurde die Kirche durch die Reformationsbewegung Anfang des 16. Jahrhunderts stark beschädigt, dann verwüsteten russische Truppen im Ersten Nordischen Krieg im 17. Jahrhundert das Bauwerk endgültig. Die Ruine blieb bis in unsere Tage so stehen, mit allen Narben und Verwüstungen der vergangenen Jahrhunderte. Wir fanden es beeindruckend durch das Mittelschiff zu gehen und die hohen Bögen der schlanken Aussenwände zu bewundern. Die Stadt Tartu ist für uns unvergesslich und ein Besuch allemal wert.

Schon in Tartu kann man die für das ländliche Estland prägenden Holzhäuser finden. In Seitenstraßen der Jakobi Straße stehen viele liebevoll restaurierte, alte Holzhäuser dicht zusammen. Sie vermitteln uns das Gefühl, dass wir weit weg von Stahlbeton und Glasfassaden in einer anderen, ursprünglicheren und naturnäheren Welt angekommen sind.

Der Nordosten Estlands, über 300 Kilometer von der Metropole Tallinn entfernt, wirkt einsam und abgeschieden. Angenehm wenig Verkehr teilt mit uns die schmalen Straßen. Wald wechselt mit einzeln stehenden Höfen und bewirtschafteten Feldern auf denen das Korn fast erntereif steht. Es gibt immer weniger Supermärkte, die wir sonst häufig anfahren, um unseren Proviant zu komplettieren. Kleine, private Kaufläden gibt es dafür, ohne Selbstbedienung sodass für uns ein Einkauf manchmal nicht ganz einfach ist. Wir merken, dass die Menschen eine andere Sprache sprechen nämlich russisch.

Unsere Fahrt geht immer weiter Richtung Osten, bis wir am Ufer des Peipussees ankommen. Wir hatten noch nie im Leben vom Peipussee gehört, der halb in Estland und halb in Russland liegt. Dabei ist dieser Binnensee der fünftgrößte Europas und bedeckt siebenmal die Fläche des Bodensees! Beeindruckend sind auch andere Fakten. Dieser riesige See ist im Durchschnitt nur 8 Meter tief. Seine tiefste Stelle misst 15 Meter. Im Sommer kann er sich stark erwärmen und er eignet sich deshalb zum Baden und Planschen gerade für Familien mit kleinen Kindern. Wir sahen plötzlich viele Autos am Randstreifen der Uferstraße parken oder in kleinen Stichstraßen im Wald stehen. Kleine Zelte, Picknicktische und Stühle standen auf Waldlichtungen und Menschen strömten zum feinen, weissen Sandstrand des Süßwassersees. Wir waren erstaunt hier so viele Menschen in der Natur anzutreffen denn es gibt keine größere Stadt in der Nähe. Dabei verstanden wir natürlich, dass sich die Anfahrt an diesen See lohnt, sobald wir auch unser Auto abstellten, die Badesachen packten und an den Strand gingen. Die Wassertemperatur ist sehr angenehm, eher etwas zu warm und man kann unglaublich weit in den See waten ohne den Boden unter den Füssen zu verlieren. Dieser schöne Badesee steht vollkommen im Kontrast dazu, dass es hier keine touristische Infrastruktur gibt. Unsere westlich geprägte Weltsicht würde an dieser Stelle Motor- und Segelboote, Schnellrestaurants und Hotels erwarten – aber nicht hier. Man muss seine Verpflegung mitbringen, den Tisch und die Klappstühle selbst aufbauen. Es ist alles eine andere Welt.

Fehlende Infrastruktur hat auch ihre Nachteile. Wir suchten einen Platz zum Übernachten. Normalerweise stellen wir uns nicht einfach in die Natur, da wir keine Toilette an Bord haben und wir auch das fließende Wasser zum Waschen und Zähneputzen auf kommerziellen Plätzen schätzen. Wir laden vor einer Urlaubsreise Wegepunkte auf unser Garmin (zum Beispiel mit der App von Archiescamping) und fahren diese dann gezielt an. Wir hatten uns für den einzigen Camping Wegepunkt am Nordufer des Peipussees entschieden. Eine Alternative gab es nicht, da Campingplätze in dieser Gegend wirklich rar sind. Als wir den Wegepunkt anfuhren führte uns das Routing der Estland Karte auf dem Garmin auf die Wiese vor einem Freizeitzentrum für Jugendliche und wir waren schnell von neugierigen Kindern und einer stämmigen, resoluten Erzieherin umringt. Wir konnten das Russisch der Kinder und der Erzieherin nicht verstehen, die anderen aber auch kein Deutsch und Englisch. Mit Zeichensprache und Zeigen auf den Bildschirm des Navigationsgerätes wies man uns den Weg zu einem anderen Punkt. Also versuchten wir dort unser Glück.

Wir landeten bei Suvi. Am Eingang stand ein uniformierter Wachmann. Er verstand uns nicht, wir sein Russisch nicht. Da wir aber hartnäckig blieben ließ er uns durch zum Büro. Hier sahen wir Preise für Campingplätze in Englisch. Wir konnten die Dame an der Rezeption überzeugen uns für eine Nacht auf Suvi als friedliche Camper aufzunehmen. Der Campingplatz war sehr groß mit Stromanschluss an jedem ausgewiesenen Platz – aber nur ein Mitcamper mit russischem Kennzeichen stand auf der Wiese. Die Sanitäranlagen lagen in einer großen Baracke wohl aus sowjetischen Zeiten und alles wirkte wie ein östliches Ferienlager – genau gesagt, wie wir uns ein solches vorstellen. Lange, dunkle Flure mit vielen abgehenden Türen und ein schummriger Waschraum mit sauberen Toiletten, Waschbecken und Duschen. Warmes, ja heisses Wasser gab es im Überfluss. Für uns war diese Nacht in Suvi wie eine Zeitreise in die Vergangenheit und es herrschte in der Nacht totale Ruhe. Nur das leise Rauschen des Windes in den Blättern der Birken drang in unser Dachzelt.

Am nächsten Morgen nehmen wir ein kurzes Bad im Peipussee. Es ist Montag und der Strand ist vollkommen leer. Nur eine Reinigungskolonne kommt vorbei und sammelt penibel jeden hinterlassenen Müll des Wochenendes auf. Wir fahren am Vormittag zur russischen Grenze an der Narva und wollen einen kurzen Blick nach Russland werfen und dann geht’s weiter Richtung Westen, auf Tallinn zu.

Wir kommen vorbei am alten Gutshof Sagadi, dessen Schloss heute zu einem attraktiven Hotel umgebaut ist, das man auch z.Bsp. über Tripadvisor im Internet buchen kann. Das Gut Sagadi liegt am Rande des Lahemaa Nationalparks. Wir wollen uns diese gehobene Übernachtung nicht leisten sondern fahren weiter nach Käsmu, ein Ort auf einer Halbinsel mitten im Nationalpark. Unser Garmin schlägt einen Campingplatz direkt im Ort Käsmu vor. Der Campingplatz entpuppt sich als gepflegter Vorgarten einer Feriendatscha einer estnischen Familie mit offenbar russischen Wurzeln, denn sie sprechen Russisch. Alles sieht sehr nett und gepflegt aus nur ist die einzige Toilette für Camper ein Plumpsklo am Rand des Grundstücks, waschen muss man sich an einem Wasserhahn, der nur kaltes Wasser spendet und zum Abwaschen gibt es einen Zinktrog.

Aber wir sind genügsam geworden, buchen ein Stückchen Vorgarten, laden die Fahrräder ab und wollen eine Rad Rundtour an der steinigen Ostseeküste entlang und zurück durch dichten Küstenwald machen. Als wir gerade in den Wald einbiegen werden wir von Mücken überfallen und entschließen zu fliehen und den Rückzug zu unserem Stück Vorgarten anzutreten. Wir schlendern von dort aus in den hübschen Ort Käsmu auf der Suche nach einem Restaurant oder wenigstens einem Cafe. Nein, all das gibt es nicht, auch keinen Laden. Nur an einem kleinen Kiosk können wir uns Coca Cola und ein Würstchen kaufen, zum Strand schlendern und eine Brotzeit nehmen.

Mich zieht es Abends zur blauen Stunde noch einmal ans Ufer der Ostsee, um ausgerüstet mit meinem Stativ, Dämmerungsaufnahmen zu machen. Es gelingen gerade vor dieser Kulisse leicht eindrucksvolle Stimmungsbilder, die noch durch die Bildwirkung eines Weitwinkels im Ausdrucks verstärkt werden können. Den Preis, den ich für die paar Fotos bezahlt habe: Viele unangenehm juckende Mückenstiche. Noch Tage später.

Tallinn oder wie es früher im deutschen und russischen Sprachraum hieß Reval ist eine Perle am Ufer der Ostsee. Leider wissen das viele und die Tourismusindustrie pumpt große Mengen neugieriger Touristen aus allen Ländern der Welt in die kleine Altstadt. Morgens sind es die Kreuzfahrtschiffe die ihre Gäste auf Bildungstrip in die Altstadt entlassen. In Grüppchen mit einem Führer, der ständig angestrengt ein Identifikationsschild hoch hält, wälzt sich der Touristenstrom durch die schmalen Gässchen, um dann vor markanten Gebäuden in fremden Sprachen die baltische Geschichte erklärt zu bekommen. Dadurch ist die kleine Stadt Tallinn für den Besucher anstrengend – aber schön. Toll restauriert kommt der mittelalterliche Glanz zum strahlen. Die Fassaden der Häuser weiß oder in warmer Ockerfarbe getüncht, das alte Kopfsteinpflaster sorgfältig verlegt und nicht geteert macht Tallinn zu einem Gesamtkunstwerk, das ohne Stilbruch den Betrachter in den Bann zieht. Sogar viele Verkaufsaktionen von Restaurants auf den Straßen mit Flötenspielern und Gauklern wirken nicht aufdringlich und abstoßend. Mit einem Wort: Wir haben unseren Besuch in Tallinn in vollen Zügen genossen.

Unser Auto haben wir auf dem Camping- oder besser Parkplatz ‚City Tallinn‘ abgestellt, haben uns die Fahrräder geschnappt und sind am Ufer der Ostsee die paar Kilometer zur Altstadt Tallinns geradelt. Vorher bogen wir links ab in den schön angelegten Kadrioru Park und radeln zum Kadrioru Loss bzw. zum Katharina Schloss. Dieses Schloss hatte Zar Peter der Große im 18. Jahrhundert als Sommerresidenz für seine Frau Katharina erbauen lassen. In seiner heutigen Pracht ist es 50 Jahre später von Zar Nikolaus I umfangreich umgebaut worden und nach der Unabhängigkeit Estlands wurde es liebevoll restauriert und der Besucher Tallinns sollte es nicht ungesehen am Wegesrand liegen lassen.

Die Stadt Tallinn blickt auf eine sehr wechselvolle Geschichte zurück. Erste estnische Besiedlungen auf dem Domberg folgte 1219 die Eroberung durch die Dänen und die Einsetzung eines Bischofs auf der auf dem Domberg erbauten Domkirche. Noch im 13. Jahrhundert eroberten deutsche Ritterorden die Stadt und es folgte eine Besiedlung Tallinns mit deutschen Kaufleuten in der heutigen Altstadt Tallinns unterhalb des Dombergs. Die dänische Krone wollte aber nicht freiwillig auf den wichtigen Handelsposten Tallinn verzichten und die Stadt wechselte nach kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Ritterorden alsbald zurück unter dänischen Machteinfluss. Mit wachsender Bedeutung der Hanse im Ostseeraum und dem wachsenden Handel mit Russland wuchs Tallinn eine entscheidende Vorpostenrolle im Verbund der Hansestädte zu. Die dänische Herrschaft über die Stadt ging immer weiter zurück und die deutschen Kaufleute in Tallinn übernahmen immer mehr die Geschäfte der Stadt. Die Amtssprache in der Stadt war Deutsch und blieb es auch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Als der Deutsche Ritterorden mehr und mehr aus Livland durch den russischen Zaren verdrängt wurde, fühlte sich auch Tallinn bedroht. In der damaligen politischen Konstellation rief man Schweden zur Hilfe und es folgte eine 150 jährige schwedische Dominanz über die Stadt. Erst im Großen Nordischen Krieg konnte nach russischer Belagerung Zar Peter der Große Tallinn 1710 erobern und in sein Reich eingliedern. Russisch aber mit vielen Privilegien versehen blieb Tallinn wie ganz Estland und die anderen Baltischen Staaten Teil des russischen Zarenreiches. Erst 1918 änderte sich dies, als im Versailler Vertrag die Unabhängigkeit Estlands beschlossen wurde.

Die kurze Unabhängigkeit endete 1939 mit dem Hitler-Stalin Pakt und Tallinn, Estland und alle anderen Baltischen Staaten verschwanden im großen Sowjetreich – wenn man von der deutschen Besetzung durch Hitlers Wehrmacht absieht. Erst 1991/92 wurde Estland unabhängig und Tallinn Hauptstadt des neu- und wiedergegründeten Staates Estland, der 2004 der Europäischen Union und der NATO beitrat.

Wir erleben Tallinn als Stadt der Touristen. Überall Menschen aus fremden Ländern. Eine Gruppe Chinesen beschließt auf dem Rathausplatz ein Ständchen vorzutragen; zum Aussichtspunkt auf dem Domberg mit herrlichem Ausblick auf Tallinn, muss ich die Ellenbogen einsetzen um mich nach vorne zu kämpfen. Stände auf dem Marktplatz verkaufen tagsüber ihre Waren, besonders Wollkleidung und Pelze aber auch Souvenirs ‚Made in China‘. Wer es etwas ruhiger haben möchte komme am späten Nachmittag, wenn die Kreuzfahrtschiffe ihre Kunden wieder alle an Bord eingesammelt haben. Aber Ruhe und Besinnlichkeit wird man in dieser Stadt nicht finden.

Nun ist es genug der vielen Worte und ich möchte Fotos sprechen lassen!


Am Schluß des Artikels gibt es den GPS Track File unserer Polen/Balkan Reise ab und bis Hamburg hier zum Download:

  Track_PolenBaltikumEntlangDerOstsee (1,9 MiB, 1.422 hits)

und wichtige und nützliche Wegepunkte findet man hier als Garmin gpx-File. Es sind schöne Campingplätze und :

  Wegepunkte_PolenBaltikumEntlangDerOstsee (2,7 KiB, 1.382 hits)


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